Ehre - Was ist das?
Sander Funneman - Niederlande
Um die Weihnachtszeit 2003 startete im Template Netzwerk „Die
Befreiungsoffensive für Wörter” („The Liberation Front
for Words”). Ihr Ziel ist einfach: möglichst viele in Wörterbüchern
gefangene Wörter zu befreien, indem ihnen ein neue Wertschätzung
entgegengebracht wird, sie neu zu definieren und neu zu gebrauchen. Wir haben
uns vor allem auf Wörter konzentriert, die eine menschliche Stärke
oder Qualität ausdrücken. Wir hoffen, inzwischen einen kleinen Beitrag
geleistet zu haben, vom Aussterben bedrohte Wörter zu retten. In diesem
Sinne wollen wir in diesem Artikel das Wort „EHRE” betrachten,
das gegenwärtig mehr und mehr missbraucht wird, indem sich niedere Motive
wie Rache und Gewalt seiner bemächtigen.
Niemand scheint Ehre einfach so haben zu können. Sie ist eine flüchtige
Substanz. Sobald wir denken, sie endlich ergriffen zu haben, ist sie dir schon
wieder entkommen. Sie ist ein Prozess und keine Sache, die wir be-sitzen können,
und deswegen nicht einfach zu definieren. Eine ganze Lebenskunst ist in dieses
kleine Wort verpackt mit verschiedenen Bedeutungen für verschiedene Gelegenheiten.
Manche Menschen haben Ehre ein Leben lang hochgehalten, die Bedeutung des Wortes
nicht befleckt. Andere haben sich daran gewöhnt, mit dem Wort „Ehre” das
Aburteilen von Mitmenschen und den Einsatz von Gewalt zu verschleiern oder
zu beschönigen. So bezeichnet sich die Mafia als „ehrenwerte Gesellschaft“.
Wahre
Ehre braucht das richtige Klima, um zu gedeihen, das sorgfältige
Abwägen von Konsequenzen und konstruktiven Begründungen. Sie braucht
also richtige Nahrung, Nährstoffe und Energie wie alles andere in der
Natur auch. Ehre hat mit Maßstäben und Werten zu tun und vertieft
deren Bedeutung. Ehre geht zum Beispiel nicht die naheliegenden, einfachen
Wege. Sie schaut auf die Konsequenzen des Handelns. Sie fragt eben nicht, ob
jemand einfach so ehrenhaft ist oder nicht. Sie fragt, ob aus der Betrachtung
der Umstände angemessene Konsequenzen gezogen werden. Ehre kann man nicht
dadurch erlangen, dass man die „richtigen” Antworten auf strittige
Fragen parat hält. Sie muss erarbeitet werden und hat dabei viel mit persönlicher
Motivation, Konsequenz, Kontexten, Tiefe, Begründungen und dann mit Taten
zu tun.
Ehre kennt nicht Rang, Klasse oder Universitätsgrade. Sie kümmert
sich nicht um Titel und Prestige. Sie ist für jeden da. In der bedachten
Sorgsamkeit, Geduld und Motivation einer Mutter ist sie nicht weniger anzutreffen
als in der ernsthaften Verantwortlichkeit eines Staatsführers. Da gibt
es keine Diskriminierung in Sachen Ehre, sie gilt für alle Nationen und
für beide Geschlechter. Ehre ist einfach Ehre.
Jeder hat die Möglichkeit persönlicher Ehre. Für den einen
bedeutet Ehre, sie auch in schwierigen Situationen hochzuhalten. Ein anderer
stellt mutig eine unpopuläre Frage in einer Situation, wo sie wirklich
zählt, und ein dritter macht Schluss mit den „netten Worten“ und
handelt.
Ehre erscheint auch in den Aktivitäten von Gruppen, wenn Geschichtenerzähler
zu kranken Kindern in ein Kinderhospital gehen, wenn eine Gruppe von Lehrern
sich ihrer Arbeit aufrichtig und selbstlos widmet, wenn Freiwillige älteren
Menschen in einem Heim helfen, wenn ein Team von Feuerwehrleuten unter Lebensgefahr
ein brennendes Gebäude auf der Suche nach Überlebenden betritt oder
ein Chor durch seinen Gesang den Lebensmut der Menschen in einem Flüchtlingslager
stärkt. Solche Projekte der Ehre können nicht eingefordert werden,
sie geschehen einfach. Die Motivation ist da und die Gelegenheit wird mit beiden
Händen ergriffen, was Ehrensache ist. Man möchte lieber nicht darüber
nachdenken, was wäre, wenn es diese Ehre nicht gäbe. Wenn z.B. Leben
gefährdet sind und die Retter Strapazen auf sich nehmen, die weit über
ihre Verpflichtungen hinausgehen, nicht aus persönlichen Gründen,
sondern ehrenhalber.
So viele Dinge haben ihre spezifische Ehre, die nicht im Buch gefunden werden
kann. Die Frage, wie etwas getan werden soll oder muss, versagt, wenn es um
Ehre geht. Ehre lässt sich nicht moralisch festnageln. Sie kennt keine
Verurteilungen, kein Gut oder Böse. Sie verbindet die situationsgerechte
Begründung mit der entsprechenden Handlung. Sie stellt sich unmittelbar
ein mit effektiver und spontaner Reaktion in einer hoffnungslos erscheinenden
Situation. Das Auto im Graben und auf einmal bietet jemand aus dem Nichts heraus
seine helfende Hand. Ehre lässt den unerwarteten Helfer in der Not zur
Stelle sein, den Retter, den Beschützer, den Tröster, den geduldigen
Zuhörer, den Hoffnungsspender, den aufmunternd Gebenden, den großzügigen
Spender, den treuen Freund. Viele alltägliche Begebenheiten dokumentieren
so wahres Ehrgefühl und gehörten eigentlich auf die Titelseiten unserer
Zeitungen!
Und nicht immer liegen die Dinge klar auf der Hand, nicht immer sind sie eindeutig
zu entscheiden. Haben diejenigen, die stehlen, oder diejenigen, die einen
Menschen töten, für immer der Ehre den Rücken gekehrt? Andere
Aburteilen ist so einfach. Was, wenn Stehlen der letzte Ausweg ist, die Kinder
zu ernähren? Oder was ist mit dem Soldaten, der seinen tödlich
verwundeten Kameraden erschießt, um ihm Gefangennahme und Folter zu
ersparen? Schon steht sie wartend in der Tür, die Moral-Brigade, für
die die Welt simpel in Gut und Böse auseinander fällt. Ehre kennt
nicht diesen einfachen Weg. Ihre Wege sind tief, überlegt, begründet,
Werten verpflichtet, die Konsequenzen bedenkend und die daraus resultierenden
Schritte. Ehrenvoll ist es, den Gesetzen zu gehorchen. Aber manchmal, wie
die Geschichte zeigt, müssen die Gesetze gebrochen werden, wenn es dringend
notwendig ist, und im Brechen von Gesetzen kann Ehre neu sichtbar werden.
Auf jeden Fall will Ehre keine Schlagzeilen machen und unterscheidet sich
so von politischen Auseinandersetzungen, Konflikten und Kriegen. Zeigt sich
in solch unversöhnlichen Gegensätzen nicht die Unreife, mit Widersprüchen
umgehen zu können, die Unfähigkeit Konflikte konstruktiv zu bewältigen?
Es ist so schön, einfach abzuurteilen, nicht nachdenken zu müssen;
sofort Ausschau nach denen zu halten, die schuldig sind und angeklagt werden
können.
Hier muss sich der Journalismus fragen lassen, ob er sich nicht manchmal als
eine eigene Gerichtsbarkeit aufspielt, nicht etwa weil er legale Befugnisse
hätte, sondern weil Verurteilungen sich besser verkaufen. Nicht jeder
Journalismus arbeitet so. Aber wenn die Höhe der Auflage das Kriterium
ist, nach dem Geschichten gestrickt
werden, wenn zusammengestrichen wird, um eine Pointe zu gewinnen, um den Leuten
nach dem Mund zu reden: Was wird dann weggeschnitten, welche Nuance, welche
Details oder Zusammenhänge werden geopfert? Welche Fakten werden unterschlagen,
um die Anziehungskraft zu steigern? Wenn die wirkliche Geschichte auf das reduziert
wird, was sich als Sensation verkaufen lässt, kollabiert ihre Wahrheit,
auch wenn die übrig gebliebenen Fakten objektiv richtig sind. Sie sind
in einem fragwürdigen Kontext falsch arrangiert und tragen falsche Akzente.
Es ist eine Ehre, die Wahrheit zu erzählen, und diese Ehre sollte nicht
auf der Strecke bleiben.
Was also ist Ehre? Im Wörterbuch steht, dass Ehre damit zu tun habe,
Verträge zu erfüllen und Versprechungen zu halten. Um der Ehre die
Ehre anzutun, in einem größeren und höheren Kontext beschrieben
zu werden, versuchen wir hier in einem ersten Schritt, dem weitere folgen sollten,
sieben Bedeutungen den Regenbogenfarben entsprechend zusammenzuführen.
Rot |
Ehre offenbart sich, wenn Prinzipien
sich in Handlungen realisieren, wenn in einer stimmigen Art zu leben Handlungen
gut begründet sind. |
Orange |
Ehre ist unser lichtes Leben und eine
gute Verwaltung der dunklen Seiten, getragen von der Absicht, das Lichte
zu mehren und das Dunkle zu mindern. |
Gelb |
Ehre ist die Fähigkeit, eine
destruktive Situation in eine konstruktive Erfahrung zu sublimieren. |
Grün |
Ehre reagiert sofort angemessen auf
Umstände und Notwendigkeiten und bietet das an, was gebraucht wird,
nicht mehr und nicht weniger. |
Blau |
Ehre ist ein menschlicher Zustand,
der uns erlaubt, niemals weniger als ein Mensch zu sein. |
Indigo |
Ehre ist ein Zustand der Selbsterkenntnis,
in dem wir nichts von dem, was wir sind, vor uns selbst verstecken. |
Violett |
Im Licht von Ehre können wir
jederzeit die Ziele, denen wir dienen, verstehen. |
Nun, am Ende dieser Entdeckungsreise, die ein Versuch ist, die Ehre aus den
Klauen des Wörterbuches zu befreien, halten wir einen Moment inne, um
uns als verschworene Freunde der Ehre zu fragen: „Warum sind wir eigentlich
Freunde der Ehre?”
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