WettbewerbsDenken
Wir alle kennen aus eigener Anschauung Schulsportfeste. Da hocken
mit ernsten und angestrengten Gesichtern die Kinder in den Startlöchern
und rennen beim Startschuss los, angefeuert von den Rufen und dem Geschrei der
Freunde und Eltern.
Und die ganze Aufmerksamkeit richtet sich dann auf den einen,
der als erster die Ziellinie überquert. Die Zweiten und Dritten interessieren
nicht besonders und die Letzten müssen vielleicht getröstet werden.
So werden Kinder in unserem Kulturkreis von früh auf darauf programmiert,
dass nur der Gewinner zählt, dass es nicht darauf ankommt, sich anzustrengen,
sich redlich Mühe zu geben, sondern darauf, Erster, Sieger zu sein. Wettbewerb
wird so zum Lebensinhalt. Maßstab für ein gelingendes Leben ist die
Zahl der Siege, die man im Lauf der Zeit über seine Mitmenschen erringt.
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit den Mechanismen
des Wettbewerbsdenkens und will gesündere Alternativen aufzeigen.
In einem kürzlich erschienenen Buch über Führungsqualitäten
wird als ein erstes Prinzip genannt, niemals „den Meister zu überstrahlen”.
Das ist ein merkwürdiges Prinzip. Sollte nicht jeder Lehrer, Leiter oder
Meister das Beste für seine Schützlinge wollen, selbst dass sie ihn
eines Tages übertreffen? Alle Dinge in dieser Welt, auch wir Menschen,
haben den Drang, optimal zu funktionieren. Der Mensch hat allerdings die Möglichkeit
der Wahl, der freien Entscheidung, und deswegen muss er, wenn er optimal funktionieren
will, sich dazu entscheiden. Besser zu funktionieren ist also ein natürlicher
Drang, aber auch eine ständige Herausforderung, und dabei sind wir angewiesen
auf die Ermutigung und die Unterstützung unserer Mitmenschen – insbesondere
unserer Lehrer und Leiter.
Wettbewerbsdenken aber veranlasst uns, unser Bestes zu geben, indem wir uns
ein kämpferisches Umfeld aufbauen, wo wir uns feindlich gegenüber
stehen, um uns zu testen und stärker zu werden. Streit soll unsere Geschicklichkeit
verbessern, unsere Kraft vergrößern. Gewinnen und Verlieren kommen
ins Spiel, die Vorstellung, dass der eine besser ist, der andere schlechter.
Damit wird das natürliche Streben nach Vervollkommnung der eigenen Möglichkeiten
verdreht in einen schädlichen Prozess.
Wo kommen diese Ideen von Gewinnen und Verlieren her? Wie erklären wir
ihre Entstehung? Lassen wir diese Fragen einmal auf sich beruhen und stellen
wir uns eine Welt ohne Gewinnen und Verlieren vor: Wir würden sie nicht
wiedererkennen, so viel angenehmer und lebenswerter würde sie aussehen.
Und unser Bemühen, unser Bestes zu geben, würde sich nicht verringern,
denn das ist in uns angelegt. Was sich verringern würde ist die psychologische
Kriegsführung zwischen entgegengesetzten Parteien, die das Ziel hat, den
Gegner herabzusetzen, zu schwächen, lächerlich zu machen und wenn
nötig zu zerstören. In dieser Welt ohne Gewinnen und Verlieren würde
respektiert, dass wir Menschen einzigartig sind und jeder seinen besonderen
Weg geht und dabei seine unverwechselbaren Charakteristika und Qualitäten
entwickelt. Jeder Mensch würde seinen Platz finden, wo er entdecken könnte,
wer er ist und was er hier zu tun hat. In einer solchen Welt könnte in
wirklicher Freiheit jeder aufgrund seiner eigenen, persönlichen Entscheidung
seine besten Möglichkeiten entfalten. Und selbstverständlich würde
er anderen Lebewesen die gleiche Freiheit einräumen und sie in ihrer Entwicklung
unterstützen, so gut er kann. Er würde den Gedanken absurd finden,
dass er sein Bestes erreichen kann, wenn er im gleichen Atemzug seinen Artgenossen
das gleiche verweigert. Er würde im Traum nicht daran denken, einen Gegensatz
zwischen seinen persönlichen Interessen und denen seiner Art zu konstruieren.
Wir leben allerdings in einer Welt, in der der Wettbewerb immer aggressiver
geworden ist und das Wettbewerbsdenken allgemein üblich. Wettbewerbsdenken
ergibt sich aus Vergleichen. Man vergleicht z.B. zwei Menschen und sagt, der
eine sei stärker als der andere und damit irgendwie besser. Dabei verliert
man die persönlichen Qualitäten der verglichenen Personen aus den
Augen. Was weiß man denn über ihre unterschiedlichen Lebensvoraussetzungen
oder Schicksale? Vielleicht ist dem einen ohne Mühe zugefallen, wofür
der andere hart arbeiten musste. Vielleicht kommt die angebliche Stärke
des einen aus einer Schwäche heraus und die Schwäche des anderen kommt
aus einer echten Stärke. Vergleichen ist blind für individuelle Anstrengungen,
Versuche, Erfolge und Misserfolge und reduziert sie auf bequeme Vergleichsmaßstäbe,
womöglich auf Bewertungen, die sich in klingender Münze auszahlen
lassen. Und der daraus resultierende Wettbewerb schafft eine kalte Welt, eine
Welt, in der jeder gegen jeden kämpft, in der „der Mensch dem Menschen
ein Wolf ist” (Hobbes), eine Welt der Minderwertigkeits- und Überheblichkeitskomplexe,
der psychologischen Störungen und der einsamen Menschen. Es ist eine Welt,
in der die Idee vom Überleben des Tüchtigsten propagiert wird. Aber
wer definiert hier, was Tüchtigkeit ist, wer kann angemessene Maßstäbe
vorlegen? Was ist, wenn im menschlichen Leben nicht ein kurzsichtiges Überleben
des Tüchtigsten zählt, sondern die Art und Weise, wie das einzelne
Lebewesen mit den anderen kooperiert?
Diese Welt, in der wir leben, ist eine seltsame Welt, in der alles Mögliche
als Anlass für Wettbewerbe herhalten muss: das Theater- und Filmemachen,
das Züchten von Kaninchen, das Dichten, das Forschen, das Lernen in der
Schule (Pisastudie), die Lautstärke der Stereoanlage im Auto oder das Achterbahnfahren.
Man liefert uns in den Medien frei Haus: den schönsten Hund des Jahres,
den besten Schauspieler, das beste Buch, die schönste Rose, den erfolgreichsten
Politiker, den Sportler des Jahres und die wohltätigste Handlung. Die Gewinner
werden angebetet und auf die Verlierer schaut man herab. Auch die Nationen geben
sich nicht damit zufrieden, ihre Werte und Errungenschaften zu pflegen, sondern
meinen, sie müssten sich in Abgrenzung von den Ausländern oder „Fremden”
nationalistisch in die Brust werfen und so ihre Identität definieren. Und
auch Mann und Frau sind nicht mehr damit zufrieden, Mannsein und Frausein als
eine Herausforderung anzusehen, je eigene Wertvorstellungen zu verwirklichen,
sondern meinen, erst in Abgrenzung und im Wettbewerb mit dem andern Geschlecht,
vor allem auch im Berufsleben, sei die wahre Selbstverwirklichung möglich.
Also nun zur Frage, woher der unstillbare Drang kommt, alles in Wettbewerb
zu verkehren. Man kann natürlich sagen, dass es in der Menschheitsgeschichte
immer schon Sport und Wettspiele gegeben habe. Aber warum hat sich gerade in
den letzten Jahrzehnten der Wettbewerb so stark geändert? Warum wird er
immer aggressiver?
Die meisten Menschen wollen nicht in der Masse untergehen oder auf eine bloße
Zahl in der Menge reduziert werden, sie wollen ihre persönliche Freiheit
behaupten. Sie bauen darum Schutzmechanismen auf, um ihren individuellen Weg
zu schützen, und denken, sie müssten das auf Kosten anderer tun. Sie
erliegen dem Missverständnis, dass persönliche Freiheit nur zu gewinnen
sei, wenn man sich gegen Mitmenschen abweisend verhält, und merken nicht,
dass sie Qualitäten in anderen abweisen, die sie für ihr eigenes Leben
als wertvoll empfinden und beanspruchen, nämlich dem Geschenk ihrer individuellen
Einzigartigkeit Geltung und Ausdruck zu verschaffen. Freiheit ist aber etwas
anderes als um jeden Preis das tun zu können, was man will, sondern Freiheit
besinnt sich, legt dann den Weg fest und geht ihn, nachdem man über Verantwortung,
Konsequenzen und Motive nachgedacht hat.
Verweilen wir noch etwas beim Thema „persönliche Freiheit”.
Haben Sie schon einmal versucht, Schlittschuh zu laufen? Das erste Mal auf dem
Eis ist eine wackelige Angelegenheit. Ganz anders als die Vorführungen
während der olympischen Winterspiele, in der die Eisläufer in völliger
Freiheit mit der größten Leichtigkeit über das Eis zu laufen,
manchmal zu schweben scheinen. Und doch waren die ersten Schritte des Eisläufers
auf dem Eis völlig unsicher und wackelig. Die Freiheit der Eisläufer
erwächst aus unzähligen Stunden harter Arbeit, aus Selbstdisziplin,
Hingabe und daraus resultierenden Fortschritten. So ist es auch in unserem Leben:
Wahre Freiheit entsteht aus Arbeit an sich selbst und erfordert Selbstdisziplin,
Hingabe, Mut, Sorgsamkeit, Selbstlosigkeit.
Eine Illusion von Freiheit ergibt sich, wenn man das eigene Potential verleugnet
und Verantwortung ablehnt, im Umgang mit Religion, Familie, Mitmenschen, sich
selbst, in allen Lebensbereichen. Das scheint uns allerdings von frühester
Kindheit an alle Welt beibringen zu wollen, dass uns das Gewinnen im Wettbewerb
mit andern frei macht.
Als Gewinner scheint man frei zu sein von der Verantwortung für sich selbst,
für andere und für die Welt, indem man sich frei fühlt vom Verlieren,
unverletzlich. Aber die Erfahrungen im Leben belehren uns eines anderen. Oft
verlieren wir gerade dann, wenn wir gewinnen, wir verlieren Möglichkeiten,
andere Perspektiven zu verstehen, wir geben Entwicklungsmöglichkeiten auf
und verlieren zukünftige Freunde.
Die meisten von uns sind des Öfteren in ihrem Leben Opfer des Wettbewerbsdenkens
geworden. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass man sich minderwertig fühlt,
einer Aufgabe nicht gewachsen. Vielleicht reagiert man deswegen in manchen Situationen
nicht mehr ganz angemessen, vielleicht sind Selbstvertrauen und Glaube an die
eigenen Fähigkeiten beeinträchtigt. Es gibt auch einige, die im Laufe
ihres Lebens vom Wettbewerbsdenken profitieren und deshalb Schwierigkeiten haben,
Kritik an diesem Prinzip zu akzeptieren. Sollte das Wettbewerbsdenken aber weiterhin
die Welt beherrschen, werden die Folgen erschreckend sein. Eine Welt ohne Wettbewerb
wird immer undenkbarer, alle Bereiche des Lebens werden zunehmend davon durchdrungen.
Übergeben wir unseren Kindern eine Welt, in der das Wettbewerbsprinzip
herrscht, in der Respekt vor dem anderen keinen Platz mehr hat, dann droht eine
Zukunft, in der die Welt noch hierarchischer wird, in der nur Maßstäbe
gelten, die Menschen sich willkürlich ausgedacht haben.
Da aber jede Person einzigartig ist, jede ihre Stärken und Schwächen
hat, ist der Weg der Menschlichkeit, die Stärken des anderen zu ermutigen
und sich gegenseitig zu unterstützen, wenn Dinge ungünstig laufen
oder man schwach ist. Es kann nicht darum gehen zu bestimmen, wer gut in was
ist, oder darum, uns mit anderen zu vergleichen, sondern nur darum, in allem,
was wir unternehmen, uns entsprechend unseren Möglichkeiten nach bestem
Wissen und Gewissen immer wieder aufs Neue einzubringen.
Dieser Artikel ist eine Gemeinschaftsarbeit des Europäischen Redaktionsteams.
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