Das Theater Chinas
Hier ein weiterer Auszug (vgl. Topaz Nr. 3) aus "The Tear - Studies in
World Theatre and Dance" von John Turner, London.
Die Ursprünge des chinesischen Theaters im goldenen Zeitalter
Chinas vor mehr als 3000 Jahre liegen im Dunkeln und gründen sich auf Mythen
und Legenden. Lediglich einige Bruchstücke sind geschichtlich nachweisbar.
Studiert man jedoch die Form des chinesischen Theaters, das während des
3. Jahrhunderts in Tempeln und Höfen entstand, kann man Rückschlüsse
ziehen auf ein Theater, das vorher existierte. Mehr als vielen anderen Nationen
ist es den Chinesen gelungen alte Werte und Traditionen fast unverändert
zu bewahren. Ihre Hochachtung vor den heiligen Geheimnissen der Vergangenheit
erlaubt uns Einblicke in eine Zeit, in der Theater als natürlicher und
intuitiver Teil der Beziehung zwischen Mensch und Universum angesehen wurde.
Das Erbe der chinesischen Kunst ist ein Schatz voller Schönheit, Geschicklichkeit,
Feinheit, Kraft und Anmut: Wir erkennen dies in der Feinheit der Aquarelle,
in den einmaligen Ärmeltänzen, in den esoterisch verschlüsselten
Masken und Kostümen, in der erhabenen Schönheit und Beschwörungskraft
der Sprache.
Wohl
nirgendwo sonst erhält man einen so tiefen Eindruck davon, wie eine Kunstform
die andere ergänzt, wie jedes Werk als ein kleiner Beitrag zu einem wesentlich
größeren Ganzen angesehen werden kann. Kostüme, Gesichtsausdrücke,
Musik, Farbe und Sprache antworten in ihrem Zusammenspiel harmonisch auf die
Kraft oder all die Kräfte und Einflüsse, welche diese riesige Zivilisation
bewegt und bewegt haben. Die lyrischen Titel ihrer Lieder und Tänze rufen
traumhafte Bilder wach: "Gesang für regenbogenfarbene Wolken und klares
Wasser" , "Der Arzt aus dem Osten ändert die ganze Erde"
oder die "Die Versammlung der himmlischen Schauspieler", eine antike
Varietéshow.
Ein Schauspielschüler des "Birnengartens" zu sein, einer Theaterschule
und -truppe im achten Jahrhundert vor Christus, bedeutete in einer Welt von
außergewöhnlicher Feinfühligkeit zu leben, es bedeutete die
Sprache der Farben zu lernen, den Wert und die Güte der Farbe Blau, die
Ehre der Farbe Rot, die Majestät der Farbe Gelb. Die Kraft einer einfachen
Geste wurde kunstvoll entwickelt, ebenso die Ausdrucksvielfalt von Handbewegungen.
Die Ärmeltänze beschwören eine Zeit herauf, in der eine Bewegung
mehr ist als nur eine Bewegung, sie ist Ausdruck eines inneren Zustandes und
Erlebens, das sich dann farbenprächtig und harmonisch enthüllt und
entfaltet und den Zuschauer in seinen Bann zieht. Die rechte Hand hat dabei
eine beruhigende Funktion, die linke belebt. Mindestens fünfzig verschiedene
Handbewegungen galt es zu lernen, jede hatte eine besondere Bedeutung.
So war das chinesische Theater die Einladung in ein Welttheater, überreich
an Bildern und wundervollen Eindrücken. Am siebten Tag des siebten Monats
wurden z.B. jahreszeitliche Spiele wie "Die Durchquerung der Milchstraße"
aufgeführt. Es gab geheimnisvolle Geschichten um Helden, Schurken, Götter
und Dämonen. Aufwendig hergestellte Schattenspielfiguren bewegten mit großem
Geschick das Publikum. Eine besondere Anmut ging von den Tänzen mit Federn
und bemalten Fächern aus.
Theater in China war nie eine Kunst um ihrer selbst Willen. Es war wie eine
Reise, eine Suche hin zu mehr innerer und äußerer Feinheit, ein Versuch,
sich selbst in Tugenden wie Rechtschaffenheit, Pflichterfüllung und Mitleid
einzustimmen. Und all dies nicht nur zu spielen, sondern auch zu leben. Und
so wurden Tänze, Musik und Aufführungen zu charismatischen Ereignissen,
die den Zuschauer tief bewegten.
Eindrücke, Sinneswahrnehmungen, und Eingebungen, prägen uns Menschen.
Denn die Eindrücke bleiben in unserem Gehirn gespeichert, bewusst oder
unbewusst. Unsere persönliche Denkweise ist wie ein Filter, sie entscheidet,
welche Eindrücke wir, auch unterschwellig, in unser Bewusstsein lassen,
was wir speichern und was nicht. Die Eindrücke, die Eingang finden, füllen
und beleben dann die Bühne unseres Geistes, unseres Geisteslebens.
Die chinesische Kunst und das chinesische Theater sind eng verbunden mit der
Funktion des menschlichen Geistes. Sie stärken die Vorstellungskraft und
das Gefühlsleben. Ihre besondere Kunst liegt in der Vermittlung und Übertragung
von Impressionen, Symbolen, Kodierungen und Gedankenbildern. Es sind schlichte
und anmutige Bilder: Der Maler malt sie mit dem Pinsel und der Tänzer stellt
sie dar mit einer kleinen Bewegung oder einem Gesichtsausdruck.
Betrachtet man die bemalten Masken, die im chinesischen Theater benutzt werden,
stellt sich die Frage nach ihrem Ursprung und Zweck, nach dem Wesen des menschlichen
Gesichts. Vielleicht funktioniert es ähnlich wie ein Fernsehgerät:
Die eigentliche Szene wird im Studio gefilmt und aufgenommen, dann in verschiedenartige
elektrische Signale umgewandelt, die zum Fernsehgerät übertragen werden,
wo sie mit Hilfe der Kathodenstrahlröhre in sichtbare Bilder zurückverwandelt
werden. Das menschliche Gesicht ist ein solcher Bildschirm, der in seinem Ausdruck
und Aussehen zeigt, was in uns vorgeht, Freude, Zweifel, Sorge oder Liebe. Und
neben dem Ausdruck, den wir auf einem Gesicht sehen, ist da auch die Ausstrahlung,
die von einem Gesicht ausgeht, oft schwieriger zu fassen, aber immer spürbar.
Mit diesem Verständnis beginnt man, Maskentheater und bemalte Gesichter
neu zu würdigen.
Das
Bühnenbild des chinesischen Theaters ist wohl eins der einfachsten der
Theaterwelt, mit fast leerem Hintergrund und wenigen Requisiten. Die einzige
wichtige Dekoration ist der Schauspieler mit seinem farbigen Kostüm und
bemalten Gesicht, die das Wesen und die Qualität des gespielten Charakters
klar hervorheben und betonen. Die Handlung ist nicht so wichtig wie der Ausdruck
dessen, was den Charakter ausmacht und ihn beeinflusst. Alles andere bleibt
der Vorstellungskraft der Zuschauer überlassen. Weil grundlegend Menschliches
vorgeführt wurde, stand die Persönlichkeit des Schauspielers nie im
Vordergrund. Diese Unpersönlichkeit wurde verstärkt durch die Masken,
die dem Schauspieler jegliche persönliche Eigenschaft nehmen und dem Zuschauer
damit erlauben, das Gesicht einer überindividuellen Wesenheit oder Qualität
zu sehen. Feste Masken wurden erst später eingeführt, zu Beginn stand
die Kunst, mit Gesichtern Zustände exemplarisch auszudrücken und hervorzurufen.
Was heute fest und fixiert geworden ist, war früher wie fließendes
Wasser - frei beweglich, spontan, erheiternd und erhöhend.
Maskentheater, wie es heute existiert, ist also der letzte Akt einer Theaterform,
die in ihrer Ursprünglichkeit lange verloren gegangen ist - und nichtsdestoweniger
lebt. Drückt sich im Staunen auf dem Gesicht eines Kindes nicht etwas überpersönlich
Wesentliches aus? Ist der Ausdruck der Sehnsucht im Gesicht junger Liebenden
nicht ein Wesensgesicht? Haben nicht Mut, Ehre, Beharrlichkeit, Trotz ihr eigenes
Gesicht?
Die chinesischen Ärmeltänze sind mit den Flügeltänzen vergleichbar,
die es in vielen Kulturen, z.B. in Ägypten, Persien und bei den nordamerikanischen
Indianern, gegeben hat. Für die Chinesen gehörte der Ärmeltanz
zu den religiösen Tänzen, die später "Kleine Tänze"
genannt wurden. Es waren Tänze mit farbiger Seide, Federn, Federbüschen,
Bannern, Schilden und eben den verlängerten Ärmeln. Die Ärmeltänze
galten als eine Beschwörung der Sterne und ein großes Einswerden.
Sie können als Symbol verstanden werden für den Wunsch, seine Flügel
zu gebrauchen, um zu den Sternen zu fliegen, für die Sehnsucht unseres
Geistes, an den Ort seiner Herkunft und fernen Heimat zurückzukehren.
Das chinesische Theater ermutigt, die eigene Vorstellungskraft zu befreien
und fortzuentwickeln, zu fragen und zu träumen, was wohl einst das großartige
und erhabene Theater von Gold und Gelb, von Bernstein und Opal war, das in einer
einzigen Bewegung oder Geste einen höheren Geisteszustand oder ein Wissen
auf alle Teilnehmer übertragen konnte, die offen dafür waren. Heutzutage
sind wir so sehr gewöhnt an all die Farben und Bewegungen um uns herum,
dass wir uns nur mit Mühe die enormen Kräfte vorstellen können,
die von Farben und Bewegungen ausgehen, die sparsam mit exaktem Ziel und überlegter
Leidenschaft eingesetzt werden.
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